W
enn du noch jung bist, aber beim Anblick dummer Mädchen schon nicht mehr das Gesicht verziehst, wenn du von klein auf weißt, dass du ein edler Ritter wirst, wenn du voller Begeisterung in den alten Chroni
ken über die Heldentaten gelesen hast, die um schöner Damen willen vollbracht wurden, dann weißt du, was Trix empfand, als er früh am Morgen Radion Sauerampfers Haus verließ.
Fürstin Tiana schlief noch süß und selig (Trix hatte ihr das Bett des Zauberers überlassen und die Nacht auf dem Sofa im Studierzimmer verbracht, die Gefahren der magischen Emanationen tapfer ignorierend), als Trix und Ian zum Markt aufbrachen. Hallenberry stand gähnend und mit gerunzelter Stirn in der Tür, auf seiner Schulter saß die Fee Annette. Trix erteilte ihm die letzten Befehle: »Geht nirgendwo hin! Ihr habt Wasser, der Eimer im Abort ist sauber. Macht niemandem auf! Nur mir!« Nach einem Blick auf seinen Knappen fügte er noch hinzu: »Und Ian. Schiebt alle Riegel vor!«
»Hör mal, ich bin kein kleiner Junge mehr«, sagte Hallenberry eingeschnappt. »Ich habe Tiana geholfen, aus dem Palast zu entkommen!«
Trix ging gar nicht auf ihn ein. »Wir sind bald wieder da. Wir kaufen alles, was wir brauchen, und kommen sofort zurück. Schlaft einfach noch eine Weile!«
»Klaro, wir schlafen! Was, wenn dein Magier kommt?« »Der kommt nicht. Der hatte gestern mit Freunden ein Symposium. Vermutlich ging es die ganze Nacht durch. Er wird bis Mittag schlafen, vielleicht sogar bis zum Abend. Der kommt erst morgen.«
»Was ist ein Symposium?«»Ein Essen mit Freunden. Sie trinken Wein,
essen und reden.«
»Klaro. Dann hat mein Vater jeden Abend ein Symposium«, sagte
Hallenberry.
»Dein Vater? Tiana hat doch gesagt, du bist ihr Bruder … na ja, ihr
Stiefbruder.«
»Das stimmt auch«, sagte Hallenberry. »Meine Mama war beim alten
Fürsten Zimmermädchen. Aber das zählt doch nicht, oder? Ich habe
den Fürsten nur ein einziges Mal gesehen. Man wollte mich
auspeitschen, weil ich im Garten ein paar Erdbeeren gegessen hatte,
aber als der Fürst das gesehen hat, hat er gesagt, dass man mich
nicht schlagen darf. Das war’s.«
Trix nickte und zerzauste Hallenberry ungeschickt das Haar. Ihm
fiel plötzlich ein, wie einige Dienerinnen, die einen dicken Bauch
bekamen, vom Schloss in irgendein Provinzstädtchen gebracht wurden.
Einmal hatte sogar sein Vater höchstpersönlich einer solchen
Dienerin einen prallen Beutel gegeben und ihr gewünscht, sie möge
neben dem dicken Bauch auch einen guten Mann bekommen.
Wahrscheinlich zählte das wirklich nicht.
Trotzdem wurde er mit einem Mal traurig und empfand Verlegenheit
gegenüber Hallenberry. »Geh wieder ins Bett!«, sagte er barsch.
»Und vergiss nicht abzuschließen!«
»Mein Liebster, nimm mich mit!«, verlangte die Fee, wobei sie Trix
einen verliebten Blick zuwarf. »Sonst vergehe ich vor
Sehnsucht.«
»Nein«, antwortete Trix energisch. »Feen gehen nicht auf den Markt.
Das wär ja dann der reinste Zirkus!«
Annette schnappte ein, sagte aber kein Wort.
Ian und Trix spannten das Pferd an, das sich offenbar auf Bewegung
freute, und machten sich durch die morgendliche Kälte auf zum
Markt.
»Der hat’s gut!«, bemerkte Ian. »Stell dir das mal vor, der Sohn
von einem alten Barden – und in Wahrheit ist er von edlem
Stand!«
»Was soll daran gut sein?«, fragte Trix. »Dass er für ein paar
Erdbeeren nicht ausgepeitscht wird?«
»Unter anderem«, antwortete Ian im Ton eines Mannes, der weiß,
wovon er spricht. »Das ist nicht zu unterschätzen! Außerdem bricht
sich edles Blut am Ende immer Bahn!«
»Klar! Durch das Loch, das dir ein Dolch in den Bauch gebohrt hat!
Es wäre viel besser, er würde jetzt in einem Garten sitzen,
Erdbeeren essen und sich nicht vor den Wachposten verstecken
müssen.«
»Die Erdbeerzeit ist schon vorbei«, sagte Ian seufzend. »Schade,
ich mag Erdbeeren.«
»Du verstehst überhaupt nichts«, entgegnete Trix. »Ich habe mir
gerade vorgestellt, dass ich vielleicht auch … Das Ganze ist doch
ungerecht.«
»Dass du jede Menge Stiefgeschwister hast?«, riet Ian.
»Wahrscheinlich hast du die sogar. Aber denen hat man den Thron
nicht weggenommen und die wurden auch nicht eingekerkert. Wenig
Ehr, wenig Beschwer.« Er schob eine Hand unters Hemd und kratzte
sich genüsslich. »Ich glaube, dein Zauberer hat Wanzen. Wir müssen
Samarschaner Pulver kaufen. Niemand macht besseres Wanzenpulver als
die Leute im Süden.«
Während sie sich unterhielten, verging die Zeit wie im Flug. Schon
bald hatten sie den Marktplatz erreicht, wo es trotz der frühen
Stunde bereits von Menschen wimmelte. Trix ließ Ian auf den Wagen
aufpassen und machte sich, bewaffnet mit der Einkaufsliste, an die
Einkäufe. Die Kupferlinge verließen seine Taschen und auf dem Wagen
entstand nach und nach ein ganzer Berg: Schweine- und Kalbfleisch;
Weizen- und Roggenbrot; Wurst und Käse; einfaches und
aromatisiertes Olivenöl; Gurken und Tomaten in Salzlauge;
schwarzer, grüner und roter Tee; normaler und Bergkaffee, der gut
für die magische Konzentration ist; roter Würfelzucker und brauner
Kristallzucker; süßer Weißwein, trockener Rotwein, scharfer
Anisschnaps und Branntwein; schwarze Seife für die Wäsche,
wohlriechende Seife für Hände und Gesicht und flüssige Seife für
Kopf und Bart; Duftstäbchen, Duftpyramiden, Duftpuder für die
Achseln und Duftcreme für den Wagen, damit er nicht so stark nach
Pferdeschweiß stank; Handtücher und Leinenlaken; Schreibpapier,
bunte Tinte in kleinen Fläschchen, Silberstifte und Gänse- und
Flamingofedern; Porzellan- und Tonteller …
Die Einkaufsliste ließ darauf schließen, dass der weise Radion
Sauerampfer entweder für lange Zeit nach Dillon kommen wollte oder
hier eine Einrichtung für den Turm zusammenkaufte. Trix fing Feuer.
Er hatte noch nie so viele unterschiedliche Dinge allein
eingekauft. Und auch so prall gefüllte Taschen hatte er noch nie
gehabt. Doch die Kupferlinge zweifelhaften Ursprungs schwanden
rasch und wanderten zu den Händlern, um sich von dort auf ihre
Reise als Wechselgeld durch die ganze Stadt zu machen. Tief in
seiner Seele wusste Trix, dass sein Verhalten nicht anständig war –
aber das Einkaufen berauschte ihn regelrecht. Aus eigener
Initiative besorgte er noch süße Früchte und Limonenwasser für
Tiana (wer wusste denn, was sie zu Frühstück und Mittag gewöhnt
war?). Am Ende erwarb er, von der eigenen Kühnheit hingerissen, bei
einer Blumenhändlerin einen Strauß kleiner schneeweißer Rosen,
welche die Reinheit seiner Absichten und tiefe Ergebenheit
symbolisierten. Die Händlerin, eine ältere dicke Frau, zwinkerte
Trix verschwörerisch zu und kniff ihn in die Wange, worauf ihm die
Röte in selbige schoss.
Mit den Blumen in der Hand kehrte Trix zum Wagen zurück, wobei er
darüber nachgrübelte, wie er auf die spöttischen Bemerkungen
reagieren sollte, mit denen er bei Ian rechnen musste. Plötzlich
sah er neben dem Wagen drei Wachposten und einen Ritter. Er blieb
wie angewurzelt zwischen den wohlriechenden Ständen stehen. Ian,
nur noch ein Häufchen Unglück, erklärte etwas, indem er hilflos mit
den Armen gestikulierte.
Wahrscheinlich war das eine reine Routinekontrolle, der die
Wachleute betrunkene Händler, Unbekannte mit verdächtigem Äußeren
oder einen Jungen mit einem allzu reich beladenen Wagen unterzogen.
Das brauchte überhaupt nichts zu besagen, außer vielleicht, dass
er, Trix, sich von ein, zwei Münzen trennen musste. Und von denen
hatte er ja noch immer genug. Sogar mehr als genug …
Wie froh wäre Trix jetzt über einen kleinen Dieb gewesen, der ihn
mit einer geschickten Bewegung um die für einen Zauberlehrling
verbotenen Münzen erleichterte! Aber die eine Tasche war immer noch
so rund, dass kein Dieb auf die Idee kommen würde, es könne sich
dabei um Geld handeln.
Nein, sicher waren das Steine zum Spielen, eine Vogelpfeife, ein
Taschenmesser, ein toter Vogel an einer Schnur und ein entsetzlich
schmutziges Taschentuch!
Kurz spielte Trix mit dem Gedanken, das Geld auf den Boden fallen
zu lassen, aber das wäre natürlich das Dümmste, was er hätte tun
können. Das Klimpern würde nicht unbemerkt bleiben, und jemand, der
auf diese Weise mit Geld um sich warf, war garantiert ein Dieb, der
befürchtete aufzufliegen!
In dem Moment fing Trix den Blick eines Händlers auf, eines
hageren, von heißen Südwinden gegerbten Mannes. Einer von denen,
die ihre Duftwaren selbst hierhergebracht hatten, um sie
eigenhändig zu verkaufen, sei es aus Sparsamkeit, sei es aus
Neugier. Vor einer halben Stunde hatte Trix bei ihm Duftkerzen
gekauft. Dabei war dem Mann bestimmt aufgefallen, wie sorglos er,
Trix, sich von seinem Geld getrennt hatte …
Jetzt starrte der Händler auf die Blumen. Dann zwinkerte er Trix zu
und winkte ihn heran. Mit zitternden Knien ging Trix zu
ihm.
»Eine Herzensfreundin?«, fragte der Händler. »Opferst du deine
Ersparnisse und willst die Dame zu dir einladen?«
Vorsichtshalber nickte Trix.
Der Händler sah sich um. »Ich habe da ein Elixier von den Grauen
Bergen, junger Mann«, raunte er Trix zu. »Es ist ein bisschen
verboten … aber du bist ja kein Angsthase, oder? Nur ein Flakon auf
eine Flasche Wein …« Er stockte, sah Trix prüfend an und fuhr dann
fort: »… oder auf einen Krug Limonade. Und diejenige, der du dieses
Getränk gibst, wird für immer die Deine sein.«
»Für immer?«, fragte Trix und vergaß sogar die Wache.
»Also … zwei, drei Monate mindestens. Mehr ist auch nicht nötig,
das kannst du einem erfahrenen Mann glauben«, sagte der Händler und
kicherte. »Du solltest dir nicht allzu früh Fesseln anlegen, junger
Mann.«
»Stimmt, das würde ich nicht wollen«, gab Trix zu. »Wie
viel?«
»Viel«, antwortete der Händler. »Drei Goldstücke.«
Trix drückte ihm schweigend alle Kupferlinge in die Hand. »Ich habe
meinen Spartopf zerschlagen«, sagte er. »Das reicht doch,
oder?«
»Nicht ganz, aber das macht nichts«, erwiderte der Händler rasch
und gab ihm eine kleine Flasche aus blauem Glas. Für das Geld hätte
Trix durchaus mehr als eine Flasche zugestanden – aber wann wäre
einem Händler je dergleichen über die Lippen gekommen? »Einen
erfolgreichen Abend, mein Junge! Du kannst auch etwas davon auf die
Blumen träufeln, um zusammen mit der Dame den Duft
einzuatmen!«
Nachdem Trix das kompromittierende Kupfer losgeworden war, steuerte
er schon selbstbewusster auf den Wagen zu. Bei seinem Anblick
hellte sich Ians Miene auf. »Da kommt er ja!«, rief er
erleichtert.
Die Wachposten und der Ritter drehten sich Trix zu. Selbst das
Pferd des Ritters zeigte ein gewisses Interesse.
»Was ist passiert, verehrte Wache?«, fragte Trix, denn Angriff war
nun mal die beste Verteidigung – von Flucht abgesehen
natürlich.
»Deiner?«, fragte ein Wachposten, der das Zeichen des Anführers am
Ärmel trug, und deutete auf den Wagen.
»Von meinem Herrn.«
»Und wer ist das?«
Zu lügen wäre gefährlich. Ein erfahrener Wachposten spürt eine Lüge
sofort.
»Der Magister der Magie Radion Sauerampfer aus Bossgard. Heute«,
nun entschied sich Trix doch für einen leichten Verstoß gegen die
Wahrheit, »beabsichtigt mein Lehrer, Dillon mit einem Besuch zu
beehren, um auf einem Symposium die jüngsten Forschungen im Bereich
der Magie zu erörtern. Ich bin vorausgeschickt worden, um des
Magisters Haus in der Kirschstraße für seine Ankunft
vorzubereiten.«
Der Wachposten, der daran gewöhnt war, dass man den Leuten jedes
einzelne Wort mit der Kneifzange aus der Nase ziehen musste, ließ
sich das Gesagte durch den Kopf gehen. »Dann bist du ein
Zauberlehrling?«, wollte er wissen.
»Mein Name ist Trix. Ich stehe noch am Anfang des endlosen Weges
der Erkenntnis«, antwortete Trix bescheiden, wie es sich für einen
Schüler ziemt.
Darauf wurden die Wachposten sofort höflicher. Ein Zauberer, selbst
ein Anfänger, war nun mal nicht irgendein Geselle oder
Kleinhändler. Dass er dich nur aus Versehen
in eine Kröte verwandelte oder dich nur mit einer nicht glühend heißen Feuerkugel verbrannte, machte
die Sache nämlich keineswegs angenehmer.
»Du bist also der Lehrling. Und er?« Der Wachposten wies mit dem
Finger auf Ian.
»Er ist unser Diener. Es ist nicht Sache eines Zauberlehrlings, das
Pferd zu striegeln und das Spülwasser hinauszutragen«, sagte
Trix.
»Halt die Augen offen, Herr Zauberlehrling.« Der Ton des
Wachpostens war nun die Höflichkeit selbst. »Die Hauptstadt ist
nicht euer Krähwinkel, hier wimmelt es von Taschendieben,
Verbrechern und Gaunern.«
»Um die wir uns natürlich kümmern!«, mischte sich ein anderer
Wachposten ein.
Trix nickte höflich. Der Kelch war an ihm
vorübergegangen.
»Und womit bezahlt der verehrte Zauberlehrling?«, wollte der Ritter
plötzlich wissen.
»Mit Silber«, antwortete Trix mit fester Stimme.
Obwohl der Ritter das Visier seines Helms heruntergelassen hatte,
spürte Trix, wie der Mann ihn aufmerksam und misstrauisch
musterte.
»Glauben wir dir das mal. Sag mal, Trix, dir ist nicht zufällig auf
dem Markt oder an einem anderen Ort ein junges Mädchen begegnet,
das in etwa dein Alter hat? Schlank, blond und mit blauen
Augen?«
»Hier sind viele Mädchen«, antwortete Trix. »Auch blonde.
Vielleicht ist mir eins begegnet, nur habe ich keine Zeit, mich
nach Mädchen umzusehen.«
»Ein schöner Strauß«, sagte der Ritter da. »Ist der etwa für deinen
Lehrer?« Die Wachposten lachten schallend.
»Der Magister Sauerampfer achtet strikt auf Reinlichkeit«,
entgegnete Trix. »Er verlangt, dass am Abort immer Blumen stehen,
die einen angenehmen Geruch verströmen.«
»Ein lobenswerter Zug bei einem Zauberer!«, sagte der Ritter
ironisch. »Und ein lobenswerter Eifer bei einem Lehrling. Nun denn,
junger Zauberer, viel Glück. Und wenn du ein Mädchen triffst, auf
das meine Beschreibung zutrifft, melde es sofort der Wache! Es ist
die Tochter eines angesehenen Aristokraten, die jedoch an
Gedächtnislücken und krankhafter Fantasie leidet. Sie ist ihren
Kinderfrauen entwischt. Die Wache setzt alles daran, das arme Ding
wieder nach Hause zu bringen.«
»Sie kann einem wirklich leidtun«, erwiderte Trix, »so gefährlich,
wie es heute für eine junge Dame auf den Straßen ist … ungeachtet
aller Bemühungen der Wache. Ich werde die Augen ganz gewiss offen
halten!«
Der Ritter nickte, was in Rüstung nicht ganz einfach war. Dann
kramte er in seiner Gürteltasche und warf Trix einen Silberling
hin. »Ich möchte dich um etwas bitten, junger Zauberer. Ich kenne
Radion Sauerampfer und hätte ihn gern getroffen, aber Geschäfte
rufen mich weiter. Sei so gut und kaufe ihm den Samarschaner
Bittersud, der aus den Wurzeln der Kalis und den Blättern der
Selsiba gewonnen wird. Den wusste er immer zu schätzen. Sag ihm, es
sei von einem alten Freund von der Schwarzen Anfurt.«
»Danke«, sagte Trix. »Das mache ich sofort.«
Der Ritter drehte sich um und stürmte auf seinem Pferd durch die
Menge davon. Die Wache folgte ihm.
»Der gefällt mir nicht«, flüsterte Ian Trix zu. »Mich hat er auch
nach dem Mädchen gefragt. Damit meint er doch …«
»Pst!«, zischte Trix.
»Der Silberling ist echt?«
Trix sah die Münze aufmerksam an. »Wenn er falsch ist, ist er nicht
schlechter als ein echter. Ich laufe gleich mal zu den Samarschaner
Kaufleuten …«
Es war nicht einfach, den Sud aus Kaliswurzeln und Selsibablättern
zu finden. Einige Händler schüttelten bloß den Kopf, andere lachten
und schickten den Jungen weiter. Trix lief die ganze Reihe ab, bis
er endlich einen Händler fand, der aus einer Truhe einen kleinen
Tonkrug holte. »Denk dran«, ermahnte er ihn, »nicht mehr als drei
Löffel auf einmal.«
Leicht verwirrt durch diese Warnung, trennte sich Trix von dem
Silberling (der Händler schnaufte mehrmals, reckte die Hände zum
Himmel und forderte mehr – bis er sich überzeugt hatte, dass der
Junge wirklich kein Geld mehr hatte). Als Trix wieder bei Ian war,
half er ihm, die Einkäufe sicher zu verstauen, dann schlängelten
sie sich durch die Menge. Die Sonne brannte bereits.
»Also, ich bin gern Diener eines Zauberers«, erklärte Ian. »Was wir
alles eingekauft haben! Und dieses Abenteuer mit …«
»Pst!«
»Mit dem Lehrling des Barden«, raunte Ian geheimniskrämerisch.
»Hältst du mich für so dumm? Also, wenn du mich fragst, ich liebe
Abenteuer. Nur gut müssen sie ausgehen.«
»Nur dann sind es überhaupt Abenteuer. Wenn es schlecht ausgeht,
spricht man von Desaster.«
Erst eine Stunde später (die Straßen waren inzwischen voll von
Menschen) erreichten Trix und Ian Sauerampfers Haus. Schon von
Weitem witterte Trix Unheil: Die Pforte stand offen und schwankte
im Wind, vor dem Zaun hatte sich eine kleine Menge versammelt,
zwei, drei Dienerinnen, die vom Markt zurückgekehrt waren, einige
Rotzbengel und ein kräftiger, dunkelhäutiger Mann (offenbar mit
einem Schuss Samarschaner Blut in den Adern), der gut gekleidet war
und eine Pfeife rauchte.
Er trat vor, sobald sich der Wagen näherte, und sah die Jungen
durchdringend an. »Du wohnst hier?«, wandte er sich an
Trix.
»Ja.« Trix wollte lieber nicht lügen.
»Wessen Haus ist das?«
»Das vom Zauberer Radion Sauerampfer.«
»Und du bist?«
»Trix, der Schüler Radion Sauerampfers. Ich bin gestern Abend
gekommen, um das Haus für die Ankunft von Herrn Sauerampfer
vorzubereiten.«
»Ich will hoffen, dass du nicht lügst … Trix«, sagte er schon
freundlicher. »Ich bin Adhan, der Viertelvorsteher.«
Was das war, wusste Trix nicht, denn im CoHerzogtum gab es ein
solches Amt nicht. Trotzdem nickte er höflich.
»Und wen hast du da dabei?« Adhan sah Ian an.
»Einen Diener.«
»Wenn du das nächste Mal weggehst, lass deinen Diener zu Haus. Bei
euch wurde nämlich eingebrochen.«
»Was?«, fragte Trix erschrocken. »Aber …«
»Ihr habt Glück gehabt, dass die Wache gerade in der Nähe war«,
fuhr Adhan fort. »Sie haben den Dieb bemerkt, ihn geschnappt und
abgeführt.«
»Aber wir haben doch ein Wachlicht!«, rief Trix.
»Und der Dieb hatte ein Amulett dagegen. Heutzutage geht ja nichts
mehr ohne Magie!« Adhan spuckte aus. »Der Ritter musste dein Licht
mit seinem Schwert zerschlagen, dabei ist ihm seine ganze Rüstung
verrußt.«
»Bei der Wache war ein Ritter?«, mischte sich Ian ein.
»Weiß dein Diener nicht, was sich gehört?«, empörte sich Adhan. Da
er im Grunde aber gern antworten wollte, machte er das auch,
schaute dabei jedoch nur Trix an. »Ja, die Wache hatte einen Ritter
dabei, sonst wären sie nämlich nicht mit dem Feuer fertig geworden.
Wenn dein Lehrer kommt, bitte ihn, bei Adhan vorzusprechen. Große
Taten und gelehrte Forschungen halten den Magister Sauerampfer nun
schon seit über zwei Jahren davon ab, die Grundsteuer zu bezahlen
und seinen Beitrag für den Unterhalt der Wache zu entrichten. Wie
du aber selbst siehst, leben wir in unruhigen Zeiten …«
»Wohin wurden die Diebe denn gebracht?«, erkundigte sich
Trix.
»Der Dieb, er war allein. Sah eigentlich ganz manierlich aus, der
junge Mann. In den Palast. Wahrscheinlich ist er der Sohnemann von
einem Adligen. Der braucht dann nur Papas Namen zu nennen und schon
entgeht er dem Arrest. Mit ein paar Dutzend Peitschenschlägen wird
er davonkommen. Während ein einfacher Dieb in den Minen gelandet
wäre!«, polterte Adhan.
»Komm!« Trix zog Ian hinter sich her. »Vielen Dank, Herr
Viertelvorsteher.«
Als sie den Wagen in den Garten brachten, kamen sie an einem
schwarzen Fleck vorbei – das war alles, was von dem Wachlicht übrig
geblieben war. Trix warf Ian die Zügel zu.
»Spann das Pferd aus und bring es in den Stall! Anschließend trägst
du unsere Einkäufe ins Haus! Aber nur bis in die Diele!«
»Aber …«, wunderte sich Ian. »Was …«
»Wenn etwas fehlt«, Trix schielte auf die Gaffer, »peitscht
Sauerampfer mich aus. Und ich dich.«
Damit verschwand er im Haus – dessen Tür sperrangelweit offen
stand.
Im Innern war alles still. Nichts zeugte von dem Besuch der Wache,
weder schmutzige Stiefelspuren auf dem Fußboden noch mit einem
gezielten Tritt umgestoßene Stühle, zerschlagene Vasen oder
Kraftausdrücke und unanständige Zeichnungen an den Wänden. Auf den
ersten Blick schien noch nicht einmal etwas gestohlen, selbst die
zwei teuren Kerzenhalter standen wie gehabt auf dem Kamin im
Wohnzimmer, die edle Statuette aus weißem Marmor, eine Kopie des
berühmten Denkmals der Lady Codiva, nur etwas freier ausgeführt,
fand sich an ihrem Platz. Anscheinend musste die Wache gegenüber
dem Zauberer einen für sie ganz und gar unüblichen Respekt
hegen.
Trix sah sich aufmerksam um. Er schluckte den Kloß in seiner Kehle
hinunter und zwang sich, energisch, tapfer und unsentimental zu
sein.
Er hatte Ian mit gutem Grund befohlen, nicht ins Haus zu kommen,
schließlich konnten ihn hier die grauenvollsten Szenen erwarten.
Trix hatte da einen gewissen Verdacht.
Die Wachleute hatten nur einen »Dieb« abgeführt, nur die Fürstin
Tiana. Hallenberry musste also noch hier sein. Und da war es ja
wohl nicht schwer zu erraten, was aus dem kühnen Jungen geworden
war, der für seine Fürstin und Stiefschwester eingetreten
war.
»Hauptsache, nicht mit dem Schwert!«, murmelte Trix. Wenn nämlich
das Blut eines unschuldigen Kindes vergossen wird, stöhnt sein
Geist noch lange des Nachts im Haus. Das würde Sauerampfer gar
nicht gefallen!
Doch im Wohnzimmer gab es keine Spur von Hallenberry. Auch in der
Kammer für die Dienstboten fand sich kein zerhackter oder
totgeprügelter Körper, ebenso wenig im Schlafzimmer des Magiers, im
Studierzimmer, in der Küche oder in dem windschiefen Anbau, in dem
die Blechwanne zum Baden stand. Dort entdeckte Trix allerdings eine
weitere Tür, hinter der ein Abort lag, den er gestern übersehen
hatte. In der Hauptstadt war es sehr in Mode, ans Haus eine
Toilette anzubauen, damit man im Winter nicht durch den Frost
laufen musste. Er hielt den Atem an und verzog angeekelt das
Gesicht, als er in das Loch spähte – von diesen Mistkerlen war ja
alles zu erwarten! –, aber die stinkende Grube erwies sich als
leer.
Nachdenklich kehrte Trix ins Wohnzimmer zurück. Im Flur schnaufte
Ian beleidigt beim Abladen der Einkäufe, kam aber nicht ins
Zimmer.
»Hallenberry!«, rief Trix.
Stille.
»Annette!«
Kein Ton.
Noch einmal durchstreifte Trix das Haus, öffnete systematisch alle
Schränke und spähte in jede Ritze, in die der magere, siebenjährige
Junge gekrochen sein könnte.
In der Küche hatte Trix endlich Glück. Er öffnete den unteren Teil
des Küchenschranks (obwohl sich darin eigentlich nur ein dicker
Kater verstecken konnte) und vernahm ein erschrockenes Fiepen. Er
ging in die Hocke – und fand sich Auge in Auge mit Hallenberry
wieder, der im Schrank saß, an die Rückwand gepresst und die Arme
um die Knie geschlungen. Auf seiner Schulter hockte die Fee
Annette, die sich mit ihren kleinen Händen die Augen zuhielt. Der
Junge sah Trix ängstlich an und kaute etwas.
»Was isst du?«, fragte Trix.
»Gummibonbons«, murmelte Hallenberry mit vollem Mund. Er schluckte
und sagte: »Hier lagen welche. Apfelgeschmack.«
»Na, da hat sich dein Aufenthalt hier ja gelohnt!«
»Ich habe die nur gegessen, um mehr Platz zu haben!« Hallenberry
versuchte, aus dem Schrank zu krabbeln. »Hilfst du mir mal,
klaro?«
Annette nahm nun auch eine Hand von den Augen und lugte zu Trix
hoch, um dann mit einem freudigen Piepser aus dem Büfett zu fliegen
und eine Pirouette in der Luft zu drehen. Trix packte Hallenberry
an den bonbonverklebten Händen und zog ihn aus dem Schrank wie
einen Korken aus der Flasche. »Wer hat dich bloß da
reingequetscht?«
»Ich selbst!«, antwortete Hallenberry beleidigt. »Ich hatte so
große Angst.«
»Wo ist Tiana?«, rief Trix. »Wo ist die Fürstin?«
Entweder klang Trix’ Ton sehr bedrohlich oder Hallenberry fiel
alles wieder ein – jedenfalls liefen plötzlich Tränen über sein von
Bonbons und Spinnenweben verschmiertes Gesicht. »Sie haben sie
mitgenommen!«, jammerte er. »Der Magier der Vitamanten hat sie
mitgenommen!«
»Was für ein Magier?«, fragte Trix. »Heul nicht!
Antworte!«
Stattdessen stieß Hallenberry einen markerschütternden Schrei aus
und stierte angsterfüllt hinter Trix.
»So, ist alles im Haus!« Ian, der es vor Neugier nicht mehr
ausgehalten hatte, schaute zur Küche herein. Mit einem Blick
erfasste er die Situation, sprang zu Hallenberry und zog ihn zur
Schüssel mit dem Abwaschwasser. Mit einigen geschickten Bewegungen
wusch er ihm das Gesicht und trocknete es mit einem gebrauchten
Küchenhandtuch ab. Das Geschrei und der Tränenfluss hörten wie
durch Zauberei auf.
»Woher kannst du das?«, fragte Trix erstaunt.
»Im Kinderheim musste ich mich dauernd um die Kleinen kümmern«,
sagte Ian. »Putz dir die Nase!«
Hallenberry putzte sich die Nase mit dem Handtuch. »Ich weiß nicht,
was für ein Magier«, sagte er dann. »Tiana hat aus dem Fenster
gesehen und gesagt, dass der Magier mit der Wache kommt. Sie hat
mir befohlen, mich zu verstecken. Ich hatte furchtbare Angst. Er
hat das Licht zertrümmert und die Tür eingetreten und ist
hereingestürmt. Da habe ich mich in der Küche versteckt
…«
»Mein Liebling, darf ich das vielleicht erzählen?« Annette
schwirrte auf der Höhe von Trix’ Gesicht in der Luft. »Der Junge
hatte wirklich Panik.«
»Und du?«
»Ich? Ich wäre beinahe vor Angst gestorben! Das war ein Kampfmagier
der Vitamanten! Ein sehr starker, der trug sogar eine Rüstung!
Zauberer mögen sonst keine Panzer! Aber der bringt eine Fee um,
ohne mit der Wimper zu zucken!«
»Ist er wegen Tiana gekommen?«
»Sicher«, sagte Annette nicht allzu betroffen. »Kaum hatte er die
Tür eingeschlagen, stand er auch schon im Raum. Die Fürstin hat
sich gar nicht erst versteckt. Vielleicht weil es sinnlos gewesen
wäre, vielleicht weil sie den Jungen retten wollte. Der Vitamant
sagt: ›Guten Tag, Fürstin. Von zu Hause wegzulaufen ist zwar
verlockend, aber Ihr solltet Eurem guten Vormund nicht solchen
Kummer bereiten. Ich bringe Euch jetzt zurück zum Palast.‹
Daraufhin sagt die Fürstin: ›Wie liebenswürdig und hartnäckig Ihr
seid. Aus Treue gegenüber dem Regenten Hass oder gegenüber Eurem
Herrn?‹ Da lacht er und antwortet: ›Sowohl aus Treue zu dem
gastfreundlichen Regenten wie auch zum großherzigen Evykait. Kommt
mit, Fürstin.‹ Und dann … ist sie weggegangen. Wir sind
vorsichtshalber lieber hiergeblieben.«
»Wie konntet ihr nur!« Trix schlug die Hände überm Kopf zusammen.
»In einer solchen Situation müssen treue Freunde ein hilfloses
Mädchen bis auf den letzten Blutstropfen verteidigen! Vor allem, da
ihr vermutlich nicht einmal totgeschlagen worden wärt!«
»Das gilt für treue Freunde«, antwortete die Fee schnippisch. »Ich
bin aber nicht ihre Freundin!«
Leider hatte Annette damit recht. Wie konnte er von der Blumenfee
verlangen, sich selbst zu opfern? Ja, wenn er zu Hause gewesen
wäre, dann wäre er diesem Herrn Ritter und Magier kühn
entgegengetreten und hätte verlangt: »Mach, dass du fortkommst! Du
befindest dich im Hause des großen Zauberers Sauerampfer, ich bin
sein Schüler!« (Im Übrigen wusste der Vitamant natürlich nur zu
gut, wo er sich befand.) Doch vor seinem inneren Auge sah Trix
leider auch in aller Deutlichkeit, wie sich der in Eisen gepackte
Ritter seine Tirade geduldig anhörte, die gewaltige Faust hob und
ihm mit dem gepanzerten Finger gegen die Stirn schnippte. Zum
Beispiel. Und wie er, Trix, dann zu Boden gehen würde – kühn,
versteht sich.
»Stimmt. Ihr wart in keiner günstigen Position«, gab Trix zu. »Aber
jetzt müssen wir was unternehmen!«
»Nur dass wir genau das nicht können!«, widersprach die Fee und
schlug mit den Flügeln. »Dazu haben sie das viel zu schlau
eingefädelt! Ist die Fürstin etwa in Gefangenschaft? Oder
eingekerkert? Nein, man hat sie einfach nach Hause gebracht. In den
Palast!«
»Aber sie soll gegen ihren Willen verheiratet werden!«
»Das ist das übliche Schicksal von Adligen«, konterte die Fee.
»Wenn du Co-Herzog geblieben wärst, hättest du dann bei der Wahl
deiner Frau dein Herz entscheiden lassen dürfen? Pah! Dein Vater
hätte dir zwei, drei Mädchen vorgestellt, die infrage kämen. Eine
Dicke, eine Pockennarbige und eine Dumme. Dann hätte er dir
befohlen, dir eine auszusuchen. Und du, als braver Sohn, hättest
genau das getan. Denn die Ehe ist eine politische
Angelegenheit.«
»Aber was sollen wir dann machen?«, fragte Trix.
»Also ich geh nach Hause«, sagte Hallenberry, nachdem er sich noch
einmal die Nase geputzt hatte. »Klaro? Niemand weiß, dass ich Tiana
geholfen habe. Glaube ich jedenfalls. Gut, ich kriege eins hinter
die Löffel, weil ich nicht zu Hause geschlafen habe … aber das ist
nicht so schlimm.«
»Dann werde ich mal die Einkäufe wegpacken«, erklärte Ian. »Grüße
Tiana von uns, wenn du sie siehst, ja? Es tut mir sehr leid, was
ihr passiert ist.«
»So ist es richtig!«, triumphierte die Fee. »Alle widmen sich
wieder ihren Aufgaben …«
Da verstand Trix, dass von seinen Freunden keine Hilfe zu erwarten
war. Keiner von ihnen hatte vor, in den Palast einzudringen und die
Fürstin zu retten. »Aber so geht das doch nicht!«, rief er. »Wir
haben versprochen, ihr zu helfen! Ich habe ihr mein Wort
gegeben!«
Hallenberry zog den Rotz hoch, sagte aber nichts. Ian verdrehte die
Augen und brachte damit zum Ausdruck, was er von den Macken der
Adligen hielt.
Genau in diesem Moment tauchte der große Magier Radion Sauerampfer
in der Küche auf.
Jeder Zauberer, der die schwierige Wissenschaft der Teleportation
beherrscht, weiß: Es reicht längst nicht, sich von einer Stadt in
eine andere zu bringen, im Bruchteil einer Sekunde auf die Spitze
eines Berges oder an die Küste eines Meeres zu gelangen. Nein, er
muss es obendrein auch noch schaffen, dass alle Zeugen seiner
Ortsverschiebung sich völlig klar darüber sind, wie schwierig
dieser Prozess und wie stark folglich der Zauberer ist, der so
etwas fertigbringt.
Trix hatte schon öfter Zauberer bei der Teleportation erlebt,
beispielsweise die königlichen Hofkuriere, aber auch einfache
Liebhaber des Reisens. Und jeder von ihnen hatte seine eigenen
Angewohnheiten.
Ein Magier, ein ziemlich junger Zauberer, verschob sich zum
Beispiel in Einzelteilen. Erst tauchten aus dem Nichts die Füße
auf, dann die Unter- und Oberschenkel, der Bauch, die Brust, der
Hals und erst ganz am Schluss der Kopf.
Ein anderer Zauberer, ein älterer und gesetzterer, tauchte zwar
gleich in einem Stück auf, zunächst jedoch durchsichtig und
farblos, dann wurde er schwarz-weiß, und erst danach nahm er ganz
langsam Farbe an. Die berühmte Zauberin Cecilia Nonforju, die auch
das CoHerzogtum ein paarmal besucht hatte, entstieg einem
Silberspiegel, der sich in der Luft materialisiert hatte und den
winzige bunte Vögel hielten. Aus den Haaren der Zauberin segelten
duftende Maiglöckchen, aus ihren Händen stieg glitzernder Staub
auf. Der ruhmreiche Zauberer Gren Getüm, ein alter und strenger
Mann, war von Flammenzungen umgeben, wenn er mit zerfetzter
Kleidung aus der Luft trat. In der einen Hand hielt Getüm einen
Zauberstab, der ein purpurrotes Licht abgab, in der anderen einen
blutigen Dolch – kurzum, es war auf den ersten Blick klar, dass der
Zauberer nur dem Anschein nach eine bequeme und schnelle Reise
hinter sich gebracht hatte, in Wirklichkeit aber über geheime
Höllenpfade gewandert war und gegen zahllose Monster gekämpft
hatte.
Man wird sich unschwer vorstellen können, wie enttäuscht Trix war,
als er Radion nach der Teleportation gefragt und eine ehrliche
Antwort erhalten hatte: All diese raffinierten Beigaben hätten
nicht die geringste Bedeutung, sie seien einzig Illusion, um die
Zeugen des Zaubers zu begeistern und zu erschrecken.
Als Radion Sauerampfer per Teleportation von seinem Turm aus zu
seinem Haus in Dillon aufgebrochen war, hatte er natürlich nicht
mit Außenstehenden gerechnet. Deshalb war sein Auftritt wenig
spektakulär, er erschien einfach lautlos in der Luft, mit einem
großen Pokal Weißwein in der Hand.
Der Zauberer sah müde und übernächtigt aus. Er trug einen grünen,
mit purpurnen Rosen bestickten Samtbademantel und Filzschuhe aus
Samarschan an den nackten Füßen. Wahrscheinlich hatte das Symposium
länger gedauert, als Sauerampfer erwartet hatte, und ihn geistig
wie körperlich enorme Kräfte gekostet.
Als er vor sich nicht nur Trix und die Fee erblickte, sondern auch
noch Ian und Hallenberry, verschüttete er vor Schreck prompt den
Wein.
Annette setzte sich rasch auf Trix’ Schulter. Ian und Hallenberry
versuchten beide, sich hinter Trix zu verstecken, gerieten dabei
ins Stolpern und fielen hin.
»Was … was hast du hier für ein Kinderheim aufgebaut?«, schrie
Sauerampfer. Sofort verzog er schmerzgepeinigt das Gesicht und
legte sich die Hand auf die Stirn. »Oh nein! Nicht schon
wieder!«
Ian zog, patent, wie er war, einen Stuhl heran, auf den sich
Sauerampfer dankbar plumpsen ließ. Dann stürzte der Junge in die
Diele und kehrte mit einem großen Topf gesalzener Gurken und einer
Flasche Aniswein zurück.
»Aus meinen Augen damit!«, stöhnte Sauerampfer. »Du lausiger
Bengel! Trix, wo kommt der her? Hä?«
Ian hörte jedoch nicht auf Sauerampfer, sondern goss ihm einen
großen Pokal mit der Salzlake der Gurken ein und gab dann den
Aniswein in ein kleines Gläschen.
»Ah …« Radion begriff allmählich. »Ah!«
»Trinkt das, Herr Zauberer!«, sagte Ian. »Zuerst den Aniswein, dann
… nein, nein! Erst den Aniswein! Dann kriegt Ihr die Salzlake! Und
Euren Wein gebt mir, den solltet Ihr jetzt nicht trinken, davon
kriegt Ihr bloß einen schweren Kopf und schwache Beine!«
Sauerampfer schnitt eine Grimasse, trank aber klaglos den scharfen
Aniswein, um sich anschließend über den Pokal mit der trüben Lake
herzumachen. Er gab Ian die leeren Gefäße zurück und schwieg einige
Sekunden. »Kluger Junge«, stellte er schließlich mit bereits
kräftigerer Stimme fest. »Bist du Schüler von einem
Heiler?«
»Nein, Herr Zauberer. Ich bin Waise. Aber Herr Hagus, der Aufseher
in unserem Heim, hat in einem solchen Fall sehr gern Aniswein und
Salzlake getrunken. Und er darf in dieser Angelegenheit als
Fachmann gelten.«
»Verstehe«, sagte Sauerampfer. »Trix! Die Frage ist noch nicht
beantwortet: Was ist das für eine Versammlung hier in meinem
Haus?«
»Also … das ist die Fee Annette!«, setzte Trix an.
»Die Fee kenne ich«, blaffte Sauerampfer.
»Das ist Ian aus einem Waisenheim im Co-Herzogtum. Wir haben uns
nach dem Umsturz kennengelernt. Er war mein Knappe … und dann …
dann sind wir uns vorübergehend verloren gegangen.«
»Und jetzt habt ihr euch vorübergehend wiedergefunden«, höhnte
Radion. »Verstehe. Mein Schüler hat einen eigenen Knappen. Einfach
wunderbar!«
»Also …«, stammelte Trix.
»Wollt Ihr noch Salzlake?«, fragte Ian.
»Fixer Kerl«, bemerkte Radion. »Gut, lassen wir das mal so stehen.
Der Knappe eines Zauberlehrlings, ein interessanter
Präzedenzfall.«
»Pränzendenzfall?« Ian schnappte das unbekannte Wort begeistert
auf. »Ist das das Gleiche wie Prätendent?«
»Und wer ist das?«, fragte Sauerampfer, ohne auf Ians Bemerkung
einzugehen. Er zeigte auf Hallenberry, der sich immer noch hinter
Trix versteckt hielt.
»Das ist Klaro … Hallenberry.«
»Klaro Hallenberry? Seltsamer Name. Auch eine Waise?«
»Nein, nicht wirklich.«
»Was heißt das? Eine unwirkliche Waise?«
»Also … sein leiblicher Vater war der Fürst Jar Dillon«, erklärte
Trix. »Und seine Mutter ist ein Zimmermädchen des Fürsten. Das
heißt, sie war es, denn sie hat geheiratet und ist gestorben.
Deshalb ist sein Vater jetzt der ehemalige Hofbarde und heutige
Gärtner. Aber das ist nicht sein leiblicher Vater. Deshalb ist er
ein bisschen eine Waise.«
»Bei allen Göttern, das ist zu kompliziert für mich! Jedenfalls
heute Morgen!«, stöhnte Radion. »Haben wir vielleicht auch noch den
Regenten selbst oder die Fürstin zu Besuch?«
»Die Fürstin war da«, antwortete Trix. »Aber ein Magier der
Vitamanten hat sie mitgenommen und zum Hof gebracht.«
Stille trat ein. Radion Sauerampfer lief nach und nach rot an, und
Trix fielen plötzlich siedend heiß jene Lehrlinge ein, die ihren
Magiern zu viele Probleme bereitet und daraufhin ihre Ausbildung
als Bügel, Sessel oder gutmütiger Hund abgeschlossen
hatten.
»Herr Sauerampfer, erlaubt mir, alles der Reihe nach zu erklären!«,
rief er. »Als ich gestern Abend in Dillon angekommen bin, da
…«
Was genau Sauerampfer eigentlich beruhigte – die schlüssige
Erzählweise von Trix oder der zweite von Ian gebrachte Pokal mit
Salzlake –, lässt sich nicht sagen. Vielleicht hatte auch Annette
ihre Finger im Spiel, Trix kam es jedenfalls so vor, als zaubere
die Fee auf seiner Schulter ein wenig, denn Wellen der
Friedfertigkeit und ein zarter Veilchenduft gingen von ihr
aus.
Wie auch immer, Radion Sauerampfer hörte die nächste Viertelstunde
schweigend zu. »Du hast eine außergewöhnliche Begabung, die es
verdient, untersucht zu werden, Trix«, sagte er, nachdem er die
ganze Geschichte kannte. »Du ziehst das Unglück förmlich an. Dabei
passiert dir selbst aber nie etwas! Wir haben es hier mit den
interessanten Schlussfolgerungen aus dem Theorem Abuirres zu den
Carrotte-Fenchel-Gesetzen zu tun …«
»All das gibt es in der Magie?«, fragte Trix erstaunt.
»Schlussfolgerungen, Gesetze und Theoreme?«
»Für alles auf der Welt gibt es Gesetze und Theoreme«, schnaubte
Sauerampfer. »Darüber brauchst du dir aber noch nicht den Kopf zu
zerbrechen. Lerne erst einmal, die ungestüme wilde Energie, die in
dir brodelt, anzuwenden! Das ist eine merkwürdige Geschichte. Der
Regent Hass ist ein giftiger alter Kerl ohne jedes Gewissen, von
Güte und Großherzigkeit ganz zu schweigen. Aber Hass ist kein
Dummkopf, da bin ich mir sicher. Um jedoch hinter dem Rücken von
König Marcel dem Lustigen zu intrigieren, noch dazu in einer Frage
wie der Beziehung zu den Vitamanten, muss man ein Dummkopf sein!
Nein, Hass ist dem König treu ergeben!«
»Er ist alt«, widersprach Trix. »Und die Vitamanten können ewig
leben. Vielleicht hat er sich deshalb auf einen Handel
eingelassen?«
»Vielleicht. Nichts ist unmöglich«, murmelte Sauerampfer. »Selbst
uns einfache und ehrliche Zauberer packt, wenn wir das zweite oder
dritte Jahrhundert überschritten haben, zuweilen der niedere
Wunsch, mit den Vitamanten zu paktieren.«
Er verstummte, stand auf und nuschelte etwas, worauf sein Gesicht
auf wundersame Weise einen rosafarbenen Ton annahm, während die
Augäpfel klar und weiß wurden. Jetzt sah er nicht mehr wie ein
müder Magier aus, der ein anstrengendes, zweitägiges Symposium
hinter sich hatte, sondern wie ein rechtschaffener Mann. »Ich danke
dir für den kleinen Zauber vorhin, Annette«, sagte Sauerampfer
beiläufig. »Hast du nicht behauptet, du würdest nichts
können?«
Annette schlug verlegen mit den Flügeln.
Radion ging leise pfeifend durchs Zimmer, machte einen Abstecher in
die Diele und kehrte mit dem Strauß weißer Rosen zurück. »Sehr
lobenswert, Trix«, sagte er. »Ein angenehmer Geruch. Bring sie ins
Klosett.«
Trix verschwieg lieber, dass er die Rosen eigentlich für die
Fürstin gekauft hatte, und brachte den Strauß ans genannte Örtchen,
wo er ihn an der Wand neben dem Kerzenhalter befestigte. Eine
Knospe riss er jedoch ab und steckte sie in seine Brusttasche,
damit er sie nahe am Herzen trug.
Als Trix zurückkam, waren bereits alle beschäftigt. Annette flog
durch die Küche und gab Hallenberry, der das Geschirr abwusch,
Befehle. Ian schleppte die Einkäufe aus der Diele herein und
verstaute sie in den Küchenschränken. Sauerampfer hatte sich im
Schlafzimmer umgezogen und trug nun einen strengen schwarzen Umhang
mit weißem Spitzenkragen, Stiefel aus Krokoleder und einen hohen
schwarzen Hut, auf dem kleine bunte Steine funkelten. In einer Hand
hielt er einen langen Zauberstab aus Ebenholz, in der anderen ein
in Leder gebundenes Buch mit Zaubersprüchen. Ab und an stieß das
Buch einen schweren Seufzer aus. Kurz und gut, Sauerampfer sah
prachtvoll aus, ganz wie es sich für einen berühmten Zauberer
gehört.
»Du und ich, wir gehen jetzt zum Regenten«, sagte Sauerampfer zu
Trix. »Nimm deinen Ausgehumhang, zieh die paillettenbesetzten
Stiefel an und setz den schwarzen Hut mit den Runen auf! Vergiss
deinen Stab nicht! Und auch … das hier! Es ist für dich.« Er hielt
Trix ein Buch hin, das in festes graues Leinen gebunden war. Es war
so klein, dass es in eine Hand passte. In einer Ecke prangte ein
angebissener, mit einem grünen Faden gestickter Apfel.
»Was ist denn das?«, fragte Trix begeistert.
»Das ist dein erstes In-einer-Hand-Buch«, verkündete Sauerampfer
feierlich. »Ein kleines Buch mit Zaubersprüchen. Für den Anfang
habe ich dir schon einige notiert. Zauber, um mit mir in Verbindung
zu treten, um dich räumlich zu orientieren, Musikzauber, damit du
ein Publikum ungezwungen unterhalten kannst …«
»Gibt es auch Kampfzauber?«
»Also … eher Verteidigungszauber. Eine Feuerwand.«
»Nicht schlecht!« Trix strich über den Einband. »Und was hat der
Apfel zu bedeuten?«
»Vorsicht!«, rief Sauerampfer. »Das ist kein Apfel, das ist der
Einpräger …«
Etwas piekte Trix in den Finger und der Apfel färbte sich rot. »Ei
pottstausend!«, jaulte er. »Da steckt ja noch die Nadel
drin!«
»Keine Nadel, sondern Magie. Das In-einer-HandBuch erkennt dich
jetzt wieder und niemand anders kann es benutzen.« Sauerampfer
schüttelte den Kopf. »Ich wollte dich gerade warnen, dass du dir
einen schönen Namen dafür ausdenken sollst. Aber jetzt ist es zu
spät. Das In-einer-Hand-Buch hat sich schon gemerkt, was du gesagt
hast.«
»Was heißt das?«
»Du musst genau diese Worte wiederholen, um das Buch zu
öffnen.«
»Ei pottstausend! Da steckt ja noch die Nadel drin?!«, fragte Trix.
»Aber das ist doch dumm! Da werden mich alle auslachen!«
»Vielleicht gibt sich das Buch mit den ersten Buchstaben
zufrieden«, munterte Sauerampfer ihn auf.
»E!«, versuchte es Trix und strich über den Einband. Nichts
passierte. »Ei!« Nichts. »Ei p!« Nichts. »Ei po!« Trix war kurz
davor aufzugeben. »Ei pott!«
Das Buch öffnete sich.
»Eipott, das geht«, befand Sauerampfer, während Trix die auf
cremefarbenes Papier geschriebenen Zauber ansah. »Eipott! Das ist
kein ungewöhnlicher Name für ein In-einer-Hand-Buch. Ich kenne
Magier, die haben ihr Buch Wasfür oder Mistverfluchter oder
Wegmitdemding genannt.«
»Und wann kriege ich ein richtiges Buch? Ein großes?«
»Das Buch mit Zaubersprüchen wächst mit dem Magier«, erklärte
Sauerampfer. »Es ernährt sich von den Zaubern, die du in ihm
aufschreibst. Je besser der Zauber, desto schneller wächst das
Buch, desto mehr Seiten wird es haben, desto schöner wird der
Einband … Aber jetzt geh dich umziehen.«
Fünf Minuten später war Trix wieder da. Sauerampfer betrachtete
gerade mit finsterer Miene den kleinen Tonkrug. »Woher kommt der
Sud aus Kaliswurzeln und Selsibablättern?«
»Das ist … Dieser Ritter, der auch ein Zauberer ist, der auch ein
Vitamant ist …« Erst jetzt fiel Trix ein, dass er dieses Detail in
seiner Erzählung vergessen hatte. »Er hat mir aufgetragen, ihn zu
kaufen und Euch zu überreichen. Einen Silberling hat er mir dafür
gegeben! Er hat gesagt, es sei ein Geschenk von einem alten Freund
von der Schwarzen Anfurt …« Als ihm klar wurde, dass Radion
Sauerampfer ganz bestimmt keinen Magier der Vitamanten zum Freund
hatte, verstummte er.
»Gavar Villaroy«, sagte Sauerampfer nachdenklich. »Er trägt einen
stählernen Panzer … dieser Magier … Die Schwarze Anfurt … Gavar ist
einer der stärksten Vitamanten, ein treuer Hund von Evykait.
Obwohl: Wir wollen die Hunde doch nicht beleidigen! Nur er kann mir
ein solches … ein solches Geschenk machen! Gehen wir!«
Trix eilte Radion erschrocken nach. Kaum hatten sie das Haus
verlassen, steuerte Sauerampfer auf den schwarzen Fleck zu, der von
dem Wachlicht übrig geblieben war. Er streckte die Hand aus und
flüsterte etwas, von dem Trix nur wenige Worte verstand. »Eine
mächtige Flamme entsteht aus dem winzigen Funken. Und die Kugel
entsteht aus diesen Flammen …«
Sicherheitshalber trat Trix ein paar Schritt zurück.
Unter Sauerampfers Hand flammte es auf. Ein kleines Wachlicht
erschien. Es schwoll an, bis es so groß war wie sein Vorgänger,
berührte leicht die Hand des Magiers und machte sich auf, im Garten
Patrouille zu fliegen.
»Ich habe geglaubt, Ihr würdet das alte wiederbeleben«, murmelte
Trix.
»Etwas wiederzubeleben, das ist die Magie der Vitamanten«,
entgegnete Sauerampfer verächtlich. »Gehen wir.«
Der Zauberer ging federnden Schrittes die Straße entlang, die den
Berg hinaufführte, und stieß seinen Stab immer wieder fest in die
Erde (wobei manchmal kleine weiße Blumen oder Funken aufstiegen).
Anscheinend bereitete sich Sauerampfer auf ein ernstes Gespräch
vor.
Trix, der ihm folgte, hielt es nicht aus und sagte: »Herr
Sauerampfer … erlaubt mir zu fragen, warum der Ritter Gavar
…«
»Wenn du ungewaschene grüne Äpfel isst oder gesalzene Gurken
naschst und anschließend frisch gemolkene Milch trinkst«,
unterbrach ihn Sauerampfer mürrisch, »dann trink den Bittersud aus
Kalis und Selsiba – und in zwei Tagen bist du deinen Kummer los.
Aber nicht mehr als drei Löffel!«
»Äh …«, stammelte Trix.
»An der Schwarzen Anfurt habe ich schreckliche Tage durchlebt,
Schüler«, fuhr er fort. »Sehr schreckliche. Die sterbliche Hülle
bereitet mitunter selbst dem stärksten Geist Ungemach. Dessen
braucht man sich nicht zu schämen, verstanden?«
»Ver-verstanden«, antwortete Trix.
»Aber die Chroniken schweigen sich über diese Dinge natürlich aus«,
ergänzte Sauerampfer. »Und wenn du jemandem etwas von dem Malheur
erzählst, verwandel ich dich in einen Nachttopf!«
»Ich kann nur in ein Material verwandelt werden, das leichter
ist!«, rief Trix vorlaut.
»Es gibt auch Nachttöpfe aus Holz«, fuhr ihn Sauerampfer an.
Daraufhin wollte Trix das Schicksal besser nicht herausfordern.